Rechtsecke

Wenn der Baum zu nah steht

Was Nachbarn fordern dürfenEin Fall aus dem Aargau zeigt, dass auch ein über 70-jähriger Baum nicht vor der Säge sicher ist, wenn er zu nah an der Grundstücksgrenze steht. Mit einer Handänderung startet die Verwirkungsfrist für eine Baumfällung neu.
Wenn der Baum zu nah steht

Ein Ehepaar kaufte im Kanton Aargau ein Einfamilienhaus. Nach Bezug des Hauses bemerkten die neuen Besitzer, dass auf dem Nachbargrundstück eine zwölf Meter hohe Schwarzföhre stand. Der Grenzabstand betrug lediglich einen Meter, war also zu klein gemäss dem kantonalen Einführungsgesetz zum ZGB. Die Eheleute forderten den Nachbarn auf, den zu nahe an der Grenze stehenden Baum zu fällen. Der Nachbar weigerte sich die Fällung vorzunehmen. Dies mit der Begründung, der Baum sei über 70-jährig und das Recht, die Entfernung eines Baumes zu fordern, verjähre nach 30 Jahren. Die Eheleute klagten beim Bezirksgericht die Fällung ein, welches dem Gesuch entsprach. Der Nachbar zog den Entscheid weiter ans Obergericht. Dieses bestätigte den Entscheid des Bezirksgerichts, weshalb der Nachbar den Fall ans Bundesgericht zog. Dieses trat auf die Klage nicht ein, da die Streitwertgrenze von Fr. 30'000 nicht erreicht war und für eine Ver­fassungsbeschwerde die Voraussetzungen fehlten (BGE 5A_443/2024 vom 26.3.2025).

Mindestabstand von 6 Metern
Der Nachbar bestreitet nicht, dass die Schwarzföhre die kantonalen Grenzabstandsvorschriften verletzt und für hochstämmige Bäume (gleich wie im Kanton St.Gallen) ein Mindestabstand von der Grenze von 6 Metern eingehalten werden muss. Er rügt hingegen, dass das Gericht hätte prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für die übermässigen Immissionen nach Art. 679 und 684 ZGB erfüllt seien. Seiner Meinung nach seien der Nadelfall und der Harzfluss seiner Schwarzföhre nicht als übermässige Immissionen zu qualifizieren, da es sich beim betroffenen Wohnquartier um ein Gartenquartier mit alten Baumbeständen handle und diese Immissionen hinzunehmen seien. Zudem sei das Beseitigungsrecht nach 30 Jahren verwirkt (mit Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts aus dem Jahre 2015: 5D_80/2015 vom 7.9.2015).

Alte Bäume – neue Besitzer, neue Rechte
Das Obergericht stellte fest, dass die Kantone nach Art. 688 ZGB befugt sind, für Anpflanzungen bestimmte Abstände vom nachbarlichen Grundstück vorzuschreiben. Halten Pflanzungen kantonalrechtliche Abstände nicht ein, kann ihre Beseitigung ohne Nachweis übermässiger Einwirkungen verlangt werden. Und wenn der Anspruch auf Beseitigung der Pflanzung nicht verwirkt ist, muss kein zusätzlicher Nachweis übermässiger Immissionen verlangt werden. Der Kanton darf Beseitigungsansprüche wegen Unterabstands einer Verjährungsfrist unterstellen. Vorliegend hat der Kanton Aargau keine solche Verjährungsfristen eingeführt (Der Kanton St.Gallen hat die Unverjährbarkeit ins Gesetz geschrieben: Art. 98sexies EGzZGB). Gemäss der Praxis des Obergerichts Aargau kann der Beseitigungsanspruch wegen verzögerter Rechtsausübung verwirken. Es gilt die Frist für die ausserordentliche Ersitzung von 30 Jahren. Da das kantonale Recht auf das Rechtsmissbrauchsverbot zurückgreift, kann einzig eine langjährige Duldung des aktuellen Eigentümers des Grundstücks zur Verwirkung des Beseitigungsanspruchs führen. Die Dauer der widerspruchslosen Duldung durch den Voreigentümer ist nicht anzurechnen, weil dieses Verhalten keinen Rechtsmissbrauch durch den aktuellen Eigentümer begründen kann (vgl. BGE 150 III 17). Dies führt zu einer geänderten Praxis, wonach die Verwirkungsfrist von 30 Jahren bei einer Handänderung jeweils neu zu laufen beginnt. Dass damit bei einer Handänderung auch die Beseitigung von alten und wertvoll gewordenen Bäumen, die auf dem benachbarten Grundstück den Grenzabstand nicht einhalten, verlangt werden kann, entspricht dem Willen des Gesetzgebers, weshalb das Obergericht Aargau die Fällung der Schwarzföhre letztinstanzlich bestätigte.